Briefe aus dem Gestapogefängnis in Tilsit 1941
Brief vom 08. Juli 1941
Tilsit, den 8. Juli 1941 Mein liebes Annachen und meine lieben Kinder, es wundert mich etwas, daß ich schon so lange von Euch ohne Nachricht bin. Deine Briefe vom 15.06. und vom 22.06. waren die Letzten. Ruti schrieb auch so unklar, ob Ihr da nun länger zu wohnen gedenkt oder nur vorübergehend. Ich bin noch gesund. Auch die paar Fliegerabwürfe haben nichts geschadet, denn wir sausten immer gleich runter in den Keller. - Mein letzter Brief war vom 19.06., den Du wohl schon längst bekommen haben wirst. Nun einige verschiedene Fragen: 1. Deutsch-lit. Wörterbuch: Setze Dich sofort mit VK. Gailius in Verbindung, daß er sich bemühe, daß die 2. Auflage des Wörterbuches erscheine, auch ohne Änderungen. Ich kann heute nichts mithelfen. Die 1. Auflage ist ganz ausverkauft. Er muß sich sputen, denn das Buch wird sicher gebraucht. Er soll sich einen Vorschuß Honorar geben lassen und Dir davon die Hälfte. Kümmert er sich darum nicht, so finde irgendwie einen Herausgeber und laß Dir das drucken, zunächst vielleicht 5000. Honorar verlange 15 – 20 % vom Verkaufspreis. Vielleicht kann Graf Bieberstein-Kraficki Dir helfen (seine Adresse im Memeler Telefonbuch). Sonst schreibe an K. Kaunas (früher „Sakalas“, dann Vizedirektor in dem Valstybire Leidykla). - 2. Lebensversicherung: Versuche irgendwie wenigstens meine Versicherung zu erhalten. Handele da selbständig. 3. Lankutten: Wenn der Vater nicht weiter kann, soll er verpachten für höchstens 3 Jahre, aber einen Pächter durch die Zeitung suchen, vielleicht die frühere „Georgine“ (wie sie jetzt heißt – beim Ortsbauernführer fragen), Pacht aber auf Getreide. 4. Ruti: Wenn es, weil Geld nicht auslangt, soll sofort sie wenigstens Schreibmaschine lernen (Stenographie später) und Stellung annehmen. Anders heute nicht möglich. Um in der deutschen Rechtschreibung sich zu vervollkommnen, soll sie aus guten Büchern jeden Tag möglichst viel abschreiben; denn da fehlt es noch ziemlich. Wäre es nicht möglich, daß sie Ostern eingesegnet werden könnte? (Diese Rassengeschichte usw. hat uns da alles verdorben.) 5. Sollte Stolpm. noch schreiben, antworte ihm, wie es ist und daß ich nicht mehr in absehbarer Zeit in Frage komme. Zuletzt nun ich selbst, mein Leben: Da sieht es nicht schön aus. Gestern bekam ich den Schutzhaftbefehl zugestellt, der so begründet ist: „Er gefährdet nach dem Ergebnis der staatspolizeilichen Feststellungen durch sein Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates, indem er dadurch, daß er auf Grund seines Bekenntnisses zum Litauertum zu höchsten Ämtern im früher autonomen Memelgebiet gelangt und seine Stellung stets zur Schädigung der deutschen Belange ausgenutzt hat, erwarten läßt, er werde auch weiterhin dem Deutschtum mit allen Mitteln Schaden zuzufügen suchen.“ - So steht es in dem Befehl vom 4./7.1941. Da ich für unbestimmte Zeit, mindestens aber für die Kriegsdauer in Schutzhaft bleibe, muß ich damit rechnen, daß ich diesen Sonnabend schon von Tilsit nach einem Lager in die Nähe von Berlin transportiert werde. Nach ärztlicher Untersuchung hier bin ich aber nur bis 50 % lagerfähig, werde wahrscheinlich also nur zu leichteren Arbeiten zugezogen werden. Soweit ich gehört habe, ist das Schreiben dort sehr beschränkt, nur 1x monatlich schreiben, also auch bekommen. Und man soll nur 20 Zeilen bekommen dürfen. Da werdet Ihr die Briefe schon im Telegrammstil ausarbeiten müssen, um das zu sagen, was man 1x monatlich sagen darf. Sobald ich dort schon schreiben kann, gebe sofort meine Adresse. Außer dem, was ich schon am 19. zu schicken bat, schickt mir, wenn es kühler wird, 1 Hemd, Unterjacke, Wollstrümpfe, Wollhandschuhe, Hausschuhe (warm). Wenn es irgendwie möglich wäre, 10 – 20 RM monatlich wären sehr gut, aber nur wenn möglich. Ich schreibe dies schon jetzt, weil man das von dort aus vielleicht nicht schreiben kann. Also ab ins KZ! Liebstes, dafür können wir nichts. Wären wir dort geblieben, wer weiß, wo man heute wäre. Allein aus Litauen sollen 40 000 verschleppt sein. Wenn ich auch ins Lager muß, gehe ich in dem Bewußtsein, daß mich all das unschuldig trifft. Und das ist die Hauptsache, daß man vor dem Höchsten ein reines Gewissen hat. Was kannst Du nun tun? (Ich kann nichts!) Nur durch die Umsiedlung könnte ich vielleicht freikommen, also durch Volksdt. Mittelstelle, durch den Einsatzstab in Litzmannstadt (der uns entließ) oder durch den Lagerführer in Wildschütz. Also nur Du kannst etwas tun, schreiben, fahren oder sonstwie. Vielleicht schreibt an den Bruder des Adomelis, den Martin (er soll in Potsdam sein, seine Frau wohnt im Haus Sernas, Pietschstr.), eine Abschrift Deines Gesuchs, daß er in Berlin bei der Mittelstelle etwas unternimmt. Nur diese Möglichkeit (durch Umsiedlungsstellen) kann vielleicht bestehen. - Seid alle stark im Vertrauen auf Gott, daß er auch diese Prüfung uns überstehen läßt. Es ist ja sein Wille. Sei stark auch Du, mein Liebstes, denke an unseren lieben Kinder! Und die werde ich wiedersehen! Das sagt eine Stimme in mir. Grüße Euch alle allerherzlichst. Fürchtet nicht, glaubet nur! Euer lieber Papi.
Brief vom 11. Juli 1941
Tilsit, 11. Juli 1941 Mein liebes Töchterlein, das ist mein letzter Brief, den Ihr von hier bekommt: morgen komme ich fort, wie ich am 8. schon geschrieben habe. Den Brief schickte ich nach Szodeiken. Um nun freizukommen, bleibt nur noch der einzige Weg, daß Mami es versucht über eine Umsiedlungsstelle. Vielleicht könnte der Viktor Gailius ihr dabei helfen. Wenn es anders nicht geht, möge man nach Litauen zurücksiedeln lassen. Der Hauptzweck war doch, Euch vor dem bolschewistischen Terror zu retten, und das ist Gott sei Dank gelungen. - Was das Wörterbuch anbetrifft, sollte Gailius sich dafür nicht interessieren, so könnte Mami es dem Norkus (Adresse: Norkienes spanstave, Kaunas, Misko g-ve) anbieten. Oder Karvelis, sollte er nicht verschleppt oder tot sein. - Mit diesem Brief schicke ich auch die Umsiedlungsquittung mit. Mami wird bei der Treuhandges. sie brauchen. - Deinen Brief vom 6. habe auch vorgestern bekommen. - Nun paar Worte zu Dir: Liebstes Rutilein, am 18. wirst Du 16 Jahre alt. Du beendest damit einen großen Abschnitt Deines Lebens. Aus dem Kindesalter trittst Du in Deine Jungmädchenjahre ein. Mit den frohen Spielen der Kinder ist es nun aus. Jetzt kommt die Zeit der Vorbereitung für Deine späteren Aufgaben. Und mit dieser Vorbereitungszeit sehr wichtig ist, darfst sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Schon jetzt trittst Du ins Leben hinaus, u. das Leben ist hart u. gefahrvoll. Die Welt ist falsch, undankbar und voll Haß. Dies muß man sich vor Augen halten, wenn man mit der Welt in Berührung kommt. Tust Du etwas Gutes, rechne damit, daß Dir der größte Undank der Lohn sein wird. Bist Du zu ihr offen, objektiv, sei auf die Falschheit gefaßt, die Dir in den Rücken fällt. Du müßtest sie lieben, sie schaut Dich mit Haß an. So ist die Welt, so sind die Menschen. Darum muß man sehr vorsichtig ihr gegenüber sein. Denke daran, wenn Du jetzt mit ihr in Berührung kommst. Weißt Du nicht, wie Du Dich manchmal zu ihr verhalten sollst, wende Dich vertrauensvoll an die Mutti, sie muß Dir heute beide Eltern ersetzen. Doch Du darfst nicht nur der nehmende Teil sein, Du sollst ihr auch etwas geben. In gewissem Sinne mußt Du der Mutti den Papi ersetzen. Sie hats jetzt sehr schwer, wie sie es noch nie gehabt hat. Mache ihr darum das Leben nicht noch schwerer durch Trotz, Eigensinn ufm. Tue alles, um zu große Traurigkeit von ihr fernzuhalten. Sei zu ihr umso mehr lieb. Und dem kleinen Niunilein mußt Du zumteil auch der Papi sein: spiele mit ihm, belehre ihn, verschönere ihm die Kindheit. Du siehst also, wieviel Forderungen das Leben an Dich schon im engsten Lebenskreise stellt. Wenn Du diese Pflichten gewissenhaft erfüllst, dann hast Du schon viel getan. Und über allem vergiß nicht den Höchsten, der über allem steht – Gott. Vertrau auf ihn, er wird alles zum Besten führen. - Das ist das, was Dein Papi in diesem Unglücksjahr Dir diesmal nur schenken kann. Wenn es einmal soweit ist, daß man sich wieder der Freiheit freuen kann, dann will er doppelt für Euch arbeiten und doppelt Euch liebhaben. Auch diese schreckliche Zeit wird einmal vorüber sein, und alles wird nur ein scheußlicher Traum gewesen sein. Seid nicht traurig, meine Liebsten, auch der Schmerz ist früher oder später vorüber. Bis dahin heißt es durchhalten und den Mut nicht sinken lassen. Es ist ja nicht der erste Schlag, der uns trifft. Aber Gott hat bis dahin geholfen, er wird auch weiter unsere Stärke sein: Fürchte Dich nicht, glaube nur! Wenn Du Deinen Geburtstag begehst, bin ich schon auf der neuen Stelle, und da werde ich an Dich, mein liebes Kind, denken. Küsse alle von mir, Mami, Niuni, Omama ufm. Gott mit Dir, Rutilein! Grüße allerherzlichst alle, die mir teuer und lieb sind. Täglich denke ich an Euch, Ihr Lieben. Euer lieber Papi.